Worte zur ForuM-Studie im Gottesdienst am 28. Januar 2024

Pfarrer Günter Hänsel

Liebe Gemeinde,

seit Tagen sind meine Gedanken bei Betroffenen, die im Raum unserer evangelischen Kirche und Diakonie durch sexualisierte Gewalt unermessliches Leid erfahren haben. Das geschilderte Leid von Betroffenen berührt mich sehr und geht mir sehr nahe. Am Donnerstag hat der unabhängige Forschungsverbund ForuM (Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland) seine Aufarbeitungsstudie veröffentlicht und an die EKD übergeben. Für dieses unermessliche Leid gibt es kaum Worte. Ich ringe in diesen Tagen sehr und finde Worte für dieses unermess­liche Leid bei den Psalmen und bei der Autorin Carola Moosbach. Sie hat dem Unermesslichen Worte gegeben. In ihrem Buch „Ins leuchtende Du: Aufstandsgebete und Gottespoesie“ bringt sie die spirituellen Verwüstungen durch die sexuelle Gewalt, die sie als Kind erlebte, zur Sprache. So möchte ich einen Text von Carola Moosbach lesen:

Erste Fragen

Was kann ich Dir sagen Gott?
Wie viel hältst Du aus und was willst Du hören?
Wie schrecklich es war und was er zerstört hat?
Wie wütend ich war und verwirrt und wie groß der Verrat
und wie tief meine Scham?
Willst Du das wirklich wissen?

Wie viel kannst Du ertragen Gott?
Wie viel hältst Du aus und was soll ich erzählen?
Von der Angst vielleicht? Dem Alleinsein? Was er getan hat?
Das mit dem Blut etwa auch Gott? Und wie er gelacht hat und
ich nicht geweint ganz weit weg war und Du wo warst Du Gott?
Willst Du das wirklich hören?

Von den Nächten ohne Schlaf und den Tagen ohne Kraft
und dem Leben ohne Sinn? Was geht es Dich an Gott? Wer will
das schon hören?

Weißt Du was damals passiert ist Gott?
Weißt Du wie es war ganz alleine zu sein?
Weißt Du wie es war um Hilfe zu schreien und Du antwortest nicht und
bist gar nicht da und wie wütend ich war Gott – wütend auf Dich?

Was soll ich noch sagen Gott kannst Du mich hören?
Bleibst du bei mir bis ich alles erzählt hab so oft und
so lang bis es endlich genug ist und wann wird das sein?
Bleibst Du bei mir bis ich weinen kann Gott? Bist Du stärker
als alles was war?

Hilf mir vom Schweigen zum Reden Gott
Sei Du mir der Grund aller Worte

© C. Moosbach 1999

Ich bin entsetzt über die sexualisierte Gewalt und Vertuschung im Raum von Kirche und Diakonie und empfinde Wut und Scham. Mit der Studie ist nun endlich und doch viel zu spät die Stimme von Betroffenen ins Zentrum gerückt. Sexualisierte Gewalt verursacht tiefes Leid und Schmerz, das meist ein ganzes Leben anhält. Betroffenen wurde nicht zugehört, statt zuzuhören und zu fragen, „Was kann ich für dich tun?“, wurden sie abgewiesen und dadurch wieder und wieder verletzt. Täter wurden stattdessen geschützt und Vertuscher gedeckt. Warum? Um die Institution zu schützen. Unsäglich! Die Gründe sind vielfältig, um einige zu nennen:

Bestehende Machtstrukturen, die Idealisierung des Pfarrhauses, die Vorstellung, die vermeintlich „bessere Kirche“ zu sein und kirchliche Strukturen haben sexuali­sierte Gewalt ermöglicht. Die evangelische Kirche ist schuldig geworden! Als Pfarrer bin ich Teil der evangelischen Kirche und ich werde dieses Versagen und die Schuld benennen. Und ich trage die Verantwortung zusammen mit anderen dafür, dass unsere Kirche ein Schutzraum für alle ist und wird. Für mich ist deshalb zentral: Kein vorschnelles „Wir bitten um Entschuldigung und Vergebung.“ Diesen Schmerz und dieses Leid von Unzähligen jetzt zu sehen, zu hören und auszu­halten, das ist jetzt dran! Deshalb: Bitte melden Sie sich.

Jetzt müssen notwendige Konsequenzen gezogen werden und zugleich braucht es eine Änderung der Kultur und Haltung in unserer Kirche. Der Gemeindekirchenrat und die Leitung der Landeskirche haben notwendige Präventionsmaßnahmen auf den Weg gebracht. Doch das reicht nicht, es geht weiter, es müssen weitere Maßnahmen umgesetzt werden, auf ganzer EKD-Ebene. Aufarbeitung und schonungslose Aufdeckung!

In den letzten Tagen schaue ich immer wieder zum Kreuz. Eines ist nicht möglich: Zum Kreuz zu schauen und sich an das Leben und Sterben, die Auferstehung Jesu zu erinnern und zugleich zu vergessen, dass es bis heute Betroffene von Gewalt gibt. Für dieses unermessliche Leid gibt es kaum Worte und so schließe ich noch einmal mit Worten von Carola Moosbach:

Kleines Gebet

Heute bete ich ein bißchen
grabe nach Wörtern aus der Tiefe
spreche mich ins Freie

Heute weine ich ein bißchen
löse die Schmerzen in Tränen auf
hoffe auf Deinen Frieden

Heute erzähle ich Dir ein bißchen
kann gar nicht sagen wie weh es tut
größer als alle Worte

Heute heile ich wieder ein bißchen
heute weiß ich Du trägst mich Gott
weiter von Tag zu Tag

© C. Moosbach 1999

Kontakte

Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO)

Hilfe bei Missbrauch, Missbrauchsverdacht und sexualisierter Gewalt
  (Ihre erste Ansprechpartnerin)

Ansprechpersonen bei Missbrauch, Missbrauchsverdacht und sexualisierter Gewalt

Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)

Zentrale Anlaufstelle.help

Unabhängige Information für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie

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